Deutsche »Einheit«?

oder »Beutezug Ost«*?

Auch meine diesjährige Betrachtung zum 3. Oktober, dem Feiertag mit der irreführenden Bezeichnung »Tag der Deutschen Einheit«, löst keinen Freudentaumel aus. Jedes der vergangenen 33 Jahre war für die meisten ostdeutschen Menschen ein Schlag ins Gesicht. Positives Neues gibt es auch 2023 nicht zu berichten. Aber die Bundesregierung stellte in ihrem »Bericht zum Stand der deutschen Einheit 2023« am 27. September 2023 ganz gelassen fest:

»Staatsminister Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland: Die deutsche Einheit ist vollendet, aber sie ist nicht vollkommen.« [1]

Angesichts der folgenden Zahlen können sich die Menschen in Ostdeutschland nur verwundert die Augen reiben.

Als am 18. Mai 1990 der »Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« der DDR mit der BRD zur Unterzeichnung kam, blieb das Staatsvolk der DDR über seinen Willen zum Anschluss der DDR an die BRD, einem Schritt mit vorhersehbar gravierenden Auswirkungen für die DDR-Bürger ungefragt. Ein Volksentscheid durch die DDR-Bürger über diesen tiefen Einschnitt in ihr Leben fand nicht statt. Wie wir heute wissen, aus »gutem« Grund.

So entschied die neu gewählte, CDU-gewendete Volkskammer der DDR selbstherrlich über die Köpfe der DDR-Bürger hinweg. Am 21. Juni 1990 trat dieser Vertrag mit Wirkung 1. Juli 1990 in Kraft. Damit und mit der dann folgenden einfachen »Eingemeindung«, der Angliederung der Deutschen Demokratischen Republik an die BRD begann für die Mehrheit der DDR-Bürger ein bis heute wirkendes gravierendes soziales Drama. Deshalb erscheint es auch nach 33 Jahren äußerst peinlich und gar lächerlich, wenn Vertreter der herrschenden bürgerlichen Klasse der BRD die von ihnen 1990 inszenierten Ereignisse stets als »Revolution« bezeichnen.

Die mit der Angliederung der DDR vollzogene Vernichtung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus, die entschädigungslose Enteignung des DDR-Volkes von seinem Volkseigentum, die Abschaffung der bis dahin herrschenden stabilen sozialen Sicherheit für die DDR-Bürger und die Beseitigung ihrer Volksmacht waren Akte der Konterrevolution, friedlich, aber mit verheerenden Langzeitfolgen für die Bürger der DDR, – bis heute.

Den verantwortlichen politischen Akteuren, vor allem der CDU-Kohl-Regierung der BRD, waren 1990 die Konsequenzen mit all den heute bekannten Resultaten ihres Handelns sehr wohl bewusst. Deshalb galt der manipulativ-ideologischen und mentalen Vorbereitung der an einhundert Prozent soziale Sicherheit gewöhnten DDR-Bürger auf ihre Rückkehr in den Schoß der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen größte Aufmerksamkeit.

Allen Ernstes wurde dafür das einlullende Märchen von einer »langsam, aber stetig« zurückgehenden Arbeitslosigkeit verbreitet.

Gleichzeitig mussten die Bürger der DDR auf die direkte Enteignung von ihrem Volkseigentum vorbereitet werden. 

Die Beseitigung des Volkseigentums und damit der sozialen Standards, das Absägen des sozialen Astes, auf dem die DDR-Bürger saßen, musste durch besagte »kluge« Manipulation, ideologische Indoktrination, Desinformation und Propaganda übertüncht werden. Die neuen, politisch Herrschenden hatten natürlich erkannt, dass die vom DDR-Volk 1989 monierten Probleme in ihrem sozialistischen Staat DDR das kapitalistische System der BRD keinesfalls automatisch zu einer erstrebenswerten und schon gar nicht zu einer »revolutionären« sozialen Errungenschaft machten.

Mit anderen Worten: Wer eine Banane essen möchte, kauft sich keine Bananenplantage.

Ziel der strategischen Vorbereitung der DDR-Bürger auf ihren Wandel zu Bürgern der BRD war deren »Ruhigstellung«, ihre soziale »Einschläferung«. Jeglicher von der DDR-Bürgerbewegung »Neues Forum« und den Unterzeichnern des Aufrufs »Für unser Land« bekundete Willen, den Sozialismus in der DDR zu erhalten und optimieren zu wollen, musste aus den Köpfen der Bürger suspendiert werden. Die Stunde der sozialen Sicherheitslüge war gekommen.

CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl verkündete in seiner Fernsehansprache vom 1. Juli 1990, anlässlich des Inkrafttretens des »Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« der DDR mit der BRD sein manipulatives Versprechen, Zitat:

»Aber niemandem werden dabei unbillige Härten zugemutet. Den Deutschen in der DDR kann ich sagen […]: Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser. Nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance und die Gewähr dafür, dass sich die Lebensbedingungen rasch und durchgreifend bessern.« [2]

Diese Worte Kohls in Kombination mit der für den Kapitalismus lachhaften Verkündung einer »langsam, aber stetig« zurückgehenden Arbeitslosigkeit sowie der scheinheiligen Prognose »Die DDR-Wirtschaft steht vor einem großen Aufschwung« klingen heute in den Ohren der betrogenen Ostdeutschen wie makabre Realsatire.

Der Ostbeauftragte der aktuellen SPD-Scholz-Bundesregierung, Carsten Schneider, veröffentlichte im letzten Jahr, am 28. September 2022, seinen »Bericht zur deutschen Einheit«. Titel des Pamphlets, »Ostdeutschland. Ein neuer Blick«.

Herr Schneider stellte darin fest:

»Die Befragten in Ost wie West sind mehrheitlich der Meinung, dass es den Parteien nur um die Stimmen der Wähler geht, ohne dass sie sich für deren Ansichten interessierten. Ebenfalls skeptisch bewerten viele Bürgerinnen und Bürger die Meinungsfreiheit in Deutschland: Nur noch 43 % (2020: 50 %) der Ost- und 58 % (2020: 63 %) der Westdeutschen vertreten den Standpunkt, dass man in Deutschland seine Meinung immer frei äußern kann, ohne Ärger zu bekommen. […] Nur noch 42 % aller Befragten sind mit der politischen Situation in Deutschland alles in allem zufrieden, 2020 waren es noch 52 %. Der Rückgang ist in allen Teilen Deutschlands deutlich: Im Osten ist ein Rückgang von 40 % im Jahr 2020 auf aktuell nur noch 31 % festzustellen, im Westen waren es 2020 noch 54 %, heute sind es lediglich 44 %. […] 63 % (2020: 66 %) der Ost-, aber nur 33 % (2020: 37 %) der Westdeutschen sind der Meinung, dass Ostdeutsche häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Damit geht diese Wahrnehmung insgesamt von 42 % auf 38 % zurück. Mit der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland ist nur eine Minderheit von 23 % (2020: 32 %) im Osten und 33 % (2020: 42 %) im Westen (eher) zufrieden.« [3]

Warum ist nur eine Minderheit von 23 % der Ostdeutschen mit der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland zufrieden? Blicken wir ein weiteres Jahr zurück. Am 7. Juli 2021 legte das Bundeswirtschaftsministerium in Person des damaligen parlamentarischen Staatssekretärs und »Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Länder«, Marco Wanderwitz (CDU), seinen »Jahresbericht für 2021« vor. Herr Wanderwitz, verkündete zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Wälzers der Deutschen Presse-Agentur:

»Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat noch kein Flächenland der neuen Bundesländer das Niveau des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Wirtschaftskraft erreicht«.

Von der Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien bei der Erarbeitung dieses Machwerkes konnte nicht ausgegangen werden, denn die zugrunde gelegten Ausgangsbewertungen basieren auf der seit Jahrzehnten betriebenen intensiven und staatlich organisierten Geschichtsklitterung und waren damit falsch. So musste die Formulierung im »Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit« 2021,

»Angesichts des geradezu dramatisch zu nennenden Niedergangs der Industrie der ehemaligen DDR in den Jahren 1989 bis 1995 ist diese Entwicklung sehr beachtlich«,

nicht nur als verlogen und verhöhnend, sondern vor allem als beleidigende Schmähung der 1990 von der BRD einverleibten DDR und ihrer Bürger bewertet werden. Dieses Machwerk stellte sich als direkter Affront gegenüber der Lebensleistung der DDR-Bürger und des sozialistischen Staates DDR dar.

Warum?

Weil die DDR 1990 mit ihrer Angliederung an die BRD aufhörte zu bestehen und aus eben diesem Grunde die Industrie in der eingemeindeten DDR bis 1995 nicht einfach niedergegangen ist, sondern von den neuen politischen Machthabern und Handlangern des herrschenden Kapitals unter der Federführung der Kohl-Regierung systematisch und brachial unter der Parole »Aufbau Ost« vernichtet wurde. Die 1990 begonnene aktive Deindustrialisierung der DDR war das alleinige Werk der einzig vom Kapital gesteuerten Bundesrepublik Deutschland.

In jenem Jahr begann nicht der populistisch verkündete »Aufbau Ost«, sondern der BRD-»Beutezug Ost«, der den Exitus der DDR-Industrie und Landwirtschaft einleitete und vollzog. Die vom kapitalistischen deutschen Staat 1990 organisierte Liquidierung und entschädigungslose Enteignung des DDR-Volkes von seinen volkseigenen Betrieben brachte für die ostdeutschen Arbeiter und Angestellte umgehend bittere, bisher unbekannte neue Erfahrungen zutage – Arbeitslosigkeit und soziales Elend.

Die Bilanz des »Beutezugs Ost«:

»Zwischen 1990 und 1995 verloren schätzungsweise 80 Prozent der Erwerbstätigen in Ostdeutschland ihren Arbeitsplatz. […] Wichtigste Ursache dafür ist die Vernichtung der Wirtschaftskraft der DDR (besonders die Zerschlagung von 140 der 145 DDR-Großbetriebe mit über 5.000 Beschäftigten). […] Die Folge der Verschleuderung der 12.354 volkseigenen Betriebe, der 465 Staatsgüter und der 3,3 Millionen Wohnungen (plus Verkehrsbetriebe, Versicherungseigentum und Handelsorganisationen) durch die Treuhand ist eine anhaltende Beherrschung der ostdeutschen Wirtschaft durch westdeutsche Eigentümer. Ein riesiges Volksvermögen von etwa 600 Milliarden DM zerrann »im Zeitraffer zu nichts« (Die Woche, 6.6.1997). Westdeutsche Kapitaleigner übernahmen etwa 80 Prozent der ostdeutschen Wirtschaft. Heute werden fast alle Zeitungen und etwa 25 Prozent der Unternehmen von Westdeutschen geführt. 60 Prozent der Immobilien sind in westdeutscher Hand. Etwa zwei Drittel der leitenden Angestellten in den 100 größten ostdeutschen Unternehmen sind Westdeutsche. […] Einer der großen Skandale der Vereinigung ist der sogenannte Elitentransfer, d. h. die dauerhafte Besetzung der Führungspositionen im Staat mit Westdeutschen. In Gesamtdeutschland sind lediglich 1,7 Prozent der Führungskräfte Ostdeutsche. Bis 1992 besetzten entsprechend den Festlegungen über ›Verwaltungshilfe‹ in Artikel 15, Abs. 2 des Einigungsvertrages 35.000 Beamte und Politiker die staatlichen und politischen Schlüsselpositionen in den ostdeutschen Ländern. Sie brachten zugleich ihre ›Netzwerke‹ mit. Die Verstetigung des dominierenden Einflusses der Westdeutschen wurde zum Normalzustand. Der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung in den sogenannten neuen Bundesländern liegt heute bei 87 Prozent; der Anteil z. B. der ostdeutschen Richter bei 13,3 Prozent, der Anteil ostdeutscher Manager bei 33 Prozent. Etwa 90 Prozent der neu berufenen Professoren an ostdeutschen Universitäten kommen aus Westdeutschland. Von den 35 zwischen 1990 und 2004 tätigen Staatssekretären im Freistaat Sachsen kamen 85,3 Prozent aus Westdeutschland. […] Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 war kein Vertrag gleichberechtigter Partner, sondern ein Eingliederungsvertrag, ein Diktat der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR. Er war ein ›Fahrplan‹ für die ökonomische und politische Konterrevolution.« [4]

Ein daraus folgendes Ergebnis:

Junger Westen, alter Osten.23064

Und wie stellt sich die soziale Situation für die Arbeiter und Angestellten in Ostdeutschland heute, 33 Jahre später, dar?

1. Die Arbeitslosigkeit:

Selbst die offiziell staatlich verkündeten Arbeitslosenzahlen sind in Deutschland geschönt.

»Mehr als drei Millionen Arbeitslose: Zeit zu handeln statt zu tricksen

Tatsächliche Arbeitslosigkeit in Deutschland

Schlechte Meldungen kann die Bundesregierung nicht gebrauchen. Deshalb bleibt sie dabei, die Arbeitslosenzahlen schönzurechnen. Arbeitslose, die krank sind, einen Ein-Euro-Job haben oder an Weiterbildungen teilnehmen, werden nicht als arbeitslos gezählt. Viele der Arbeitslosen, die älter als 58 sind, erscheinen nicht in der offiziellen Statistik. Auch wenn private Arbeitsvermittler tätig werden, zählt der von ihnen betreute Arbeitslose nicht mehr als arbeitslos, obwohl er keine Arbeit hat.

Wer die tatsächliche Arbeitslosigkeit erfassen will, muss ehrlich rechnen. Hier ist die tatsächliche Zahl, die allein auf amtlichen Daten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit beruht: Im November 2022 waren mehr als 3 Millionen Menschen arbeitslos. Zeit zu handeln statt zu tricksen.

Nicht hinzu zählen wir diejenigen Menschen, deren Arbeitsstellen von der öffentlichen Hand voll oder maßgeblich gefördert werden: Das sind zurzeit 39.873 Personen im Sozialen Arbeitsmarkt (Teilhabe am Arbeitsmarkt, § 16i SGB II), 16.366 Personen mit Gründungszuschuss bzw. anderen geförderten Selbständigkeiten sowie die Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter.

Darüber hinaus tauchen rund 978.000 nicht erwerbstätige Personen – die sogenannte stille Reserve – in keiner Arbeitslosenstatistik auf (IAB-Kurzbericht 7/2022, S. 4), etwa weil sie in unfreiwilliger Teilzeit sind, sich entmutigt vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben und sich nicht (mehr) als arbeitslos registrieren lassen.« [5]

Und Ostdeutschland nimmt stetig die »Vorreiterrolle« bei diesen aufgehübschten Arbeitslosenzahlen ein.

Arbeitslose Ost und West 2022

23015

Zur Verklärung des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses werden die Arbeiter und Angestellten in Deutschland fälschlicherweise als »Arbeitnehmer« bezeichnet.

Richtig ist, die kapitalistische Produktion bedarf des »doppelt freien« Lohnarbeiters, des Proletariers. Dieser ist:

a) juristisch freier Eigentümer seiner Person und seines Arbeitsvermögens als Voraussetzung dafür, dass er seine Arbeitskraft auf dem Markt als Ware verkaufen kann;

b) frei von Eigentum an Produktionsmitteln und damit zum Verkauf seiner Arbeitskraft gezwungen.

Veränderungen in der Lohnhöhe und im Konsumniveau der Lohnarbeiter ändern nichts an ihrer sozialen Stellung als Ausgebeutete. Die »doppelt freien« Lohnarbeiter entstanden durch die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Zur Vertuschung dieses kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses stilisieren bürgerliche Ideologen, allen voran die opportunistische SPD, die Arbeiter und Angestellten kurzerhand zu »Arbeitnehmern« und den kapitalistischen Unternehmer zum treu sorgenden »Arbeitgeber«.

Bereits 1847, zwanzig Jahre vor dem Erscheinen von »Das Kapital«, formulierte Friedrich Engels in seinem Werk »Grundsätze des Kommunismus«, Zitat:

»Die Arbeit ist eine Ware wie jede andere, und ihr Preis wird daher genau nach denselben Gesetzen bestimmt werden wie der jeder anderen Ware.« [6]

Genau deshalb ist der kapitalistische Unternehmer als Käufer der Ware Arbeitskraft der Arbeitnehmer und der Proletarier als Verkäufer seiner Arbeitskraft an den kapitalistischen Unternehmer der Arbeitgeber. Nicht umgedreht!

Karl Marx nannte das Heer der Arbeitslosen die »Industrielle Reservearmee« des herrschenden Kapitals:

»Im selben Verhältnis daher, wie sich die kapitalistische Produktion entwickelt, entwickelt sich die Möglichkeit einer relativ überzähligen Arbeiterbevölkerung, nicht weil die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit abnimmt, sondern weil sie zunimmt, also nicht aus einem absoluten Mißverhältnis zwischen Arbeit und Existenzmitteln oder Mitteln zur Produktion dieser Existenzmittel, sondern aus einem Mißverhältnis, entspringend aus der kapitalistischen Exploitation  (Ausbeutung) der Arbeit, dem Mißverhältnis zwischen dem steigenden Wachstum des Kapitals und seinem relativ abnehmenden Bedürfnis nach wachsender Bevölkerung.« [7]

2. Der Arbeitslohn:

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»im Osten verdienen bei gleicher Qualifikation 14 Prozent weniger als im Westen« [8]

Pressemitteilung Boeckler Stiftung pm_wsi_2022_09_29-005 a

3. Die Rente:

Kaum ein DDR-Bürger nahm 1990 zur Kenntnis, wenn ihm denn auch eine demokratische Kenntnisnahme möglich gewesen wäre, dass ihm im Widerspruch zu Kohls Aussage äußerst »unbillige Härten« zugemutet wurden. In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden, entgegen seiner heuchlerischen Bekundungen, besonders die DDR-Rentner dramatisch »schlechter« gestellt »als zuvor« und auch schlechter als die westdeutschen Bürger. Für alle DDR-Bürger, die am 18. Mai 1990 ihren Wohnsitz in der DDR hatten und noch heute im angegliederten Teil Deutschlands wohnen, gilt deshalb: Die Rentenwerte Ost lagen 32 Jahre unter den Rentenwerten West.

Anfang 1991, im ersten Jahr nach der Angliederung der DDR an die BRD, bekam der Rentner West 39,58 DM für einen erarbeiteten Entgeltpunkt (EP), der Rentner Ost hingegen nur 18,35 DM. Die Bezüge für den ostdeutschen Rentner erreichten dadurch im »Deutschland einig Vaterland« in jenem Jahr noch nicht einmal fünfzig Prozent der Westrente.

Wie einige Beispiele zeigen, setzte sich auch in den Folgejahren dieses Unrecht fort. Pro Renten-Entgeltpunkt (EP) bekam der Rentner:

  • Im Jahre 2000 West: 48,58 DM pro (EP), Ost: 42,26 DM pro (EP). Differenzbetrag pro Entgeltpunkt: 6,32 DM.
  • Im Jahre 2009 West: 27,20 EURO pro (EP), Ost: 24,13 EURO pro (EP). Differenzbetrag pro Entgeltpunkt: 3,07 EURO.
  • Im Jahre 2015 West: 29,21 EURO pro (EP), Ost: 27,05 EURO pro (EP). Differenzbetrag pro Entgeltpunkt: 2,16 EURO.
  • Im Jahre 2020 West: 34,19 EURO pro (EP), Ost: 33,23 EURO pro (EP). Differenzbetrag pro Entgeltpunkt: 0,96 EURO.
  • Im Jahre 2022 West: 36,02 Euro, Ost: 35,52 Euro. Differenzbetrag pro Entgeltpunkt: 0,50 EURO.

Der Rentenwert Ost stieg damit 2022 nach zweiunddreißig Jahren der sogenannten »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« und Angliederung der DDR, auf ganze 98,6 Prozent des aktuellen Rentenwerts West.

Erst 2023 schafften es die dafür politisch Verantwortlichen der BRD den Rentenwert zwischen Ost und West zu vereinheitlichen! Geblieben sind weit niedrigere Renten im Osten.

»jungen Welt« vom 27. September 2023:

»Auf die BRD rollt eine Welle der Altersarmut zu. Das belegen aktuelle Zahlen des Bundesarbeitsministeriums, wonach etwa 43 Prozent der derzeit sozialversicherungspflichtigen Vollbeschäftigten eine Rente von unter 1.500 Euro erhalten werden. 1.500 Euro bekommt derzeit, wer 45 Jahre lang 40 Stunden in der Woche gearbeitet und dabei 20,78 Euro pro Stunde verdient hat. […]

Armut im Alter werde so für Millionen von Beschäftigten traurige Realität werden.

Betroffen sind insbesondere Menschen in Ostdeutschland. 40 Prozent von ihnen müssen sich auf eine Rente von unter 1.200 Euro einstellen. Dieser Anteil ist fast doppelt so hoch wie in den westlichen Bundesländern. […] Die niedrigen Renten sind auch im Hinblick auf Pflegebedürftigkeit ein Armutsrisiko, so die Volkssolidarität.« [9]

Auch die manipulative Ankündigung von 1990:

»Die freiwillige Zusatzrentenversicherung wird geschlossen. […] doch gehen die Ansprüche aus dieser freiwilligen Versicherung keineswegs verloren«,

blieb reine Propaganda.

Bis zum heutigen Tag fehlt die versprochene Anerkennung der »Ansprüche aus dieser freiwilligen Versicherung«. Die in der DDR eingezahlten Beträge in die damaligen Zusatzversorgungssysteme durch Akademiker, Beschäftigte bei Bahn und Post, Polizei und andere fanden keine Berücksichtigung und sind damit für die Versicherten verloren. Die Nichtanerkennung dieser Ansprüche hat bis heute dramatische soziale Folgen für die (noch lebenden) betroffenen Rentner.

Auf Antrag der Fraktion »Die Linke« kam es im 18. Deutschen Bundestag im Juli 2014 zur Abstimmung über die Beendigung des den Abgeordneten aufgezeigten Rentenunrechts in Ostdeutschland. Dieser Antrag zur Gleichstellung der Ostrentner und zur Anerkennung und Berücksichtigung der DDR Zusatzversorgungssysteme wurde mit der »Drucksache 18/1994« des Bundestages (mit den Stimmen der SPD-Abgeordneten!) abgelehnt.

So wurde das »Problem« wie in den zurückliegenden dreiunddreißig Jahren auch weiterhin makaber, »kostengünstig« und auf rein »natürlich-biologische« Art und Weise, aus der Welt geschafft. Mit dem Tod der anspruchsberechtigten ostdeutschen Versicherten.

4. Armut und Abwanderung:

Der »Paritätische Armutsbericht 2022« konstatiert in Deutschland eine Armutsquote von  16,6 Prozent. Von Armut betroffen sind hier 13,8 Millionen Menschen.

Wie eine Deutschland-Karte aus dem »Paritätischen Armutsbericht 2022« zeigt, konzentriert sich die Armut vor allem auf dem Gebiet der 1990 von der BRD vereinnahmten DDR. 

Armutsquote:

  • Sachsen-Anhalt 19,5 %,
  • Thüringen 18,9 % und
  • Mecklenburg-Vorpommern mit 18,1 %.

Zitat: »›Die Befunde sind erschütternd, […]. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie‹, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.« [10]

 Armut nach Erwerbsstatus

Abwanderung in Ostdeutschland

5. Die entschädigungslose Enteignung des DDR-Volkes

Am 17. Juni 1990 beschloss die Volkskammer der DDR das »Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens«, das »Treuhandgesetz«.

Dieses trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Der gebildeten Treuhandgesellschaft wurden etwa 8 500 DDR-Betriebe, 25 000 Einzelhandelsgeschäfte, 7 500 Gaststätten und Hotels und 1,7 Millionen Hektar Land unterstellt. Die »Treuhand« trug damit auch die Verantwortung für über vier Millionen Arbeiter und Angestellte.

X Verfassung der DDR, Art. 12 1

Die Nachfolgegesellschaft der »Treuhand«, die »Bodenverwertungs- und Verwaltungsgesellschaft mbH« (BVVG), wurde am 1. Juli 1992 gegründet.

Die BVVG veröffentlichte am 22. Juni 2017 anlässlich ihres 25-jährigen Gründungsjubiläums eine bemerkenswerte Mitteilung. Nachzulesen war darin, dass im Zuge der weiteren Privatisierung des Volkseigentums der DDR-Bürger 

in den zurückliegenden 25 Jahren 7,4 Milliarden Euro eingenommen und an den Bundeshaushalt der BRD abgeführt wurden.

Natürlich erhielten und erhalten die so brutal enteigneten DDR-Bürger von diesen 7,4 Milliarden Euro aus dem Verkauf ihres angestammten Eigentums keinen Cent.
Dr. Edgar Most
war bis zum konterrevolutionären Ende der DDR Vizepräsident der Staatsbank und nach deren Vereinnahmung durch die Deutsche Bank der BRD, deren Direktor und Vorstandsmitglied. Dr. Most gab am 2. Mai 2009 der »Jungen Welt« ein Interview. Titel:

»Der Osten verarmt, vergreist und verdummt«. [11]

Dr. Most stellte fest, dass

»die DDR-Bürger buchstäblich um ihr Vermögen beklaut«

wurden und noch bis in die Gegenwart beklaut werden.

Die BVVG privatisierte bis 2017 bereits fast ein Siebtel der gesamten Fläche der DDR. Damit wurden 1,4 Millionen Hektar Grund und Boden aus dem expropriierten Volksvermögen der DDR verscherbelt. Zum Verkauf standen 2017 immer noch 1 300 Quadratkilometer Acker- und Weideland sowie 90 Quadratkilometer Wald. Der »Schlussverkauf« dieser volkseigenen Agrar- und Forstflächen soll, so die obige Mitteilung der BVVG vom 22. Juni 2017, bis 2030 vollzogen sein.

Die entschädigungslose Enteignung des DDR-Volkes von seinem Volkseigentum gehört zu den größten Untaten der dafür politisch und organisatorisch verantwortlichen der Bundesrepublik Deutschland.

Jürgen Heidig

[1] Quelle: www.ostbeauftragter.de/ostb-de/aktuelles/die-einheit-ist-vollendet-aber-noch-nicht-vollkommen-2225946 Aufgerufen am 27. September 2023.

[2] Helmut Kohl, Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der DDR mit der BRD, 1. Juli 1990.

[3] Quelle: www.bundesregierung.de/resource/blob/975294/2129976/a63ea9d17b1a3 c6063933f9a2e68c345/ bericht-des-ostbeauftragten-data.pdf?download=1, Aufgerufen am 19. September 2023.

[4] »Junge Welt«, 5. Februar 2019, »Zukunft Ost«. »Die Ostdeutschen sind die Verlierer des Vereinigungsprozesses. Dem muss endlich Einhalt geboten werden. Ein Papier des Ältestenrates der Partei Die Linke.«, Quellehttp://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/348320.die-linke-zukunft-ost.html.

[5]  Quelle: http://www.die-linke.de/themen/arbeit/tatsaechliche-arbeitslosigkeit/2022/.  Aufgerufen am 29. Juni 2022.

[6] Friedrich Engels, »Grundsätze des Kommunismus« in Karl Marx/Friedrich Engels, MEAW Band 1, Dietz Verlag, Berlin 1975, Seite 337.

[7] Karl Marx/ Friedrich Engels, »Das Kapital«, dritter Band, »Kritik der politischen Ökonomie«, »Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion«. Nach der ersten von Friedrich Engels herausgegebenen Auflage, Hamburg 1894, in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW) Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1964, Seite 232.

[8] Quelle: www.boeckler.de/newsletter-rest/t/review/7XA5L.39YIZ.581363773A03DBBDE6E10BD0F593432A/, Aufgerufen am 29. September 2022.

[9] Junge Welt https://www.jungewelt.de/artikel/459901.rentenpolitik-welle-der-altersarmut.html. Aufgerufen am 27. September 2023.

[10] Der Paritätische Armutsbericht 2022 vom 29. Juni 2022. Quelle: www.der paritaetische.de/themen/sozialpolitik-arbeit-und-europa/armut-und-grundsicherung/armutsbericht-2022/. Aufgerufen am 1. Juli 2022.

[11] »Junge Welt« vom 2. Mai 2009, Wochenendbeilage, S. 1, »Der Osten verarmt, vergreist und verdummt«.

»Beutezug Ost«*: »Beutezug OST Die Treuhand und die Abwicklung der DDR.« Dokumentarfilm von Herbert Klar und Ulrich Stoll vom 14. September 2010, https://www.zdf.de/politik/frontal-21/dokumentation-beutezug-ost-100.html.

Am 20. Juni 2023 ist dieses aktuelle und politisch brisante Buch im Eigenverlag Jürgen Heidig erschienen. Sie erhalten es in ihrer Buchhandlung, bei Amazon und überall, wo es Bücher gibt.

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Das nunmehr zweite Buch der »grauen Reihe« des Autors Jürgen Heidig skizziert die »Entwicklung« rund um den im Jahre 2010 öffentlich gewordenen verbrecherischen »Cum -Ex« und »Cum-Cum«-Steuerraub.

Im Schlaglicht steht eine Hauptakteurin des »Cum-Ex«-Verbrechens, das Bankhaus »M.M.Warburg & CO«, welches damit dem Staat 325 Millionen Euro entzog. An »Cum-Ex« direkt beteiligt waren Vertreter deutscher Staatsorgane, gewählte Funktionsträger bürgerlicher Parteien, ein Netzwerk von Aktienhändlern, Steuerberatern, Bänkern, Anwälten und Notaren. Zur Grundlage für »Cum-Ex« wurde im Jahre 2007 ein Steuergesetz, »das an entscheidender Stelle von der Bankenlobby formuliert worden war – eins zu eins, ohne dass ein Komma geändert wurde.«

Eine symptomatische Verbrecherfigur stellte der Jurist und Rechtsanwalt Hanno Berger dar. Herr Berger verkündete am 6. Dezember 2022 vor Gericht, »er habe die Transaktionen als legales Steuersparmodell angesehen.«

Dokumentiert wird das Verhalten der in Staatsverantwortung handelnden Personen, insbesondere des heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz, von März 2011 bis März 2018 Erster Bürgermeister Hamburgs. Veranlasste dieser der »M.M.Warburg & CO«-Bank eine Steuernachforderung in Höhe von 47 Millionen Euro zu erlassen? Die Rolle von Olaf Scholz bei der Aufklärung dieses Sachverhalts bestand im Wesentlichen in der Aussage: »Ich kann mich nicht erinnern«.

Das dokumentierte Handeln von politisch und staatlich verantwortlichen Personen im »Cum-Ex«-Krisengeschehen und die diesbezüglichen politischen Machtspiele der bürgerlichen Parteien SPD, FDP, Grüne und CDU/CSU hinterlassen beim Leser einen bleibenden, beklemmenden, abstoßenden Eindruck. Die Abfolge der turbulenten Ereignisse erscheint hingegen wie ein Politthriller.

Sie erhalten das Buch in ihrer Buchhandlung und überall, wo es Bücher gibt. ISBN 978-3-00-074760-1, 193 Seiten, Preis: 11,80 EURO.  Oder beim Autor direkt: autor-und-verlag-heidig@gmx.de. Bezahlung nach Lieferung und Rechnungslegung. Preis zuzüglich Versandkosten.

Das »Traktate – Reihe – Trio« mit 69 analytischen Beiträgen erwerben Sie auch direkt beim Autor Jürgen Heidig, einzeln oder zum Paketpreis für alle drei Bände von 30,00 EURO. Mail an: autor-und-verlag-heidig@gmx.de. Lieferung auf Rechnung. Weitere Bücher des Autors finden Sie im Buchladen.

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