Die Betrogenen III

Teil III: »Bis jetzt gehört in der DDR das meiste dem Staat, die Kombinate und Betriebe. Grund und Boden, Häuser und Wohnungen.«

Am 18. Mai 1990 kam der »Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« der DDR mit der BRD zur Unterzeichnung. Ein Volksentscheid der DDR-Bürger über diesen gravierenden Einschnitt in ihr Leben fand nicht statt. Die neu gewählte, gewendete Volkskammer der DDR erhob diesen Vertrag daraufhin am 21. Juni 1990 mit Wirkung 1. Juli 1990 zum Gesetz. Damit und mit der dann folgenden einfachen »Eingemeindung« der Deutschen Demokratischen Republik in die BRD begann für die Mehrheit der DDR-Bürger ein bis heute wirkendes gravierendes soziales Drama. Deshalb erscheint es auch nach 32 Jahren äußerst peinlich und gar lächerlich, wenn Vertreter der herrschenden bürgerlichen Klasse der BRD die von ihnen 1990 inszenierten Ereignisse als »Revolution« bezeichnen. Die Vernichtung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus, die entschädigungslose Enteignung des DDR-Volkes von seinem Volkseigentum, die Abschaffung jeglicher stabiler sozialer Sicherheit für die DDR-Bürger und die Beseitigung der Volksmacht waren Akte der Konterrevolution, friedlich, aber mit verheerenden Langzeitfolgen für die Bürger der DDR.

Den verantwortlichen politischen Akteuren, vor allem der Kohl-Regierung der BRD, waren 1990 die Konsequenzen mit all den heute bekannten Resultaten ihres Handelns sehr wohl bewusst. Deshalb galt der manipulativ-ideologischen mentalen Vorbereitung der an einhundert Prozent soziale Sicherheit gewöhnten DDR-Bürger auf ihre Rückkehr in den Schoß der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen größte Aufmerksamkeit. Gleichzeitig mussten die Bürger der DDR auf ihre direkte Enteignung von ihrem Volkseigentum vorbereitet werden. Die Beseitigung des Volkseigentums und damit der sozialen Standards, das Absägen des sozialen Astes, auf dem die DDR-Bürger saßen, musste durch »kluge« Manipulation, ideologische Indoktrination, Desinformation und Propaganda übertüncht werden. Die neuen, politisch Herrschenden hatten natürlich erkannt, dass die vom DDR-Volk 1989 monierten Probleme in ihrem sozialistischen Staat DDR das kapitalistische System der BRD keinesfalls automatisch zu einer erstrebenswerten und schon gar nicht zu einer »revolutionären« sozialen Errungenschaft machten.

Ziel der strategischen Vorbereitung der DDR-Bürger auf ihren Wandel zu Bürgern der BRD war deren »Ruhigstellung«, ihre soziale »Einschläferung«. Jeglicher von der DDR-Bürgerbewegung »Neues Forum« und den Unterzeichnern des Aufrufs »Für unser Land« bekundete Willen, den Sozialismus in der DDR zu erhalten und optimieren zu wollen, musste aus den Köpfen der Bürger suspendiert werden. Die Stunde der sozialen Sicherheitslüge war gekommen.

Bundeskanzler Helmut Kohl verkündete in seiner Fernsehansprache am 1. Juli 1990, anlässlich des Inkrafttretens des »Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« der DDR mit der BRD sein manipulatives Versprechen, Zitat:

»Aber niemandem werden dabei unbillige Härten zugemutet. Den Deutschen in der DDR kann ich sagen […]: Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor dafür vielen besser. Nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance und die Gewähr dafür, dass sich die Lebensbedingungen rasch und durchgreifend bessern.« [1]

Zur gleichen Zeit erreichte die Bürger der DDR eine Flut von Propagandaschriften der neuen politischen Machthaber. Alle diese Pamphlete sollten dieses von Herrn Kohl vermittelte soziale Sicherheitsgefühl bei den Bürgern der DDR erzeugen. Eine besondere Rolle nahm dabei die im Format der ehemaligen sozialistischen Tageszeitung »Neues Deutschland« daherkommende, 11-seitige

»Informationen zum Staatsvertrag. Neue Freiheit, neue Sicherheit: Währungsunion, Wirtschaftsunion, Sozialunion. Fragen und Antworten«, ein. [2]

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Dieses Pamphlet formulierte fünfundzwanzig Fragen und bot darauf gleichzeitig die servilen und propagandistischen Antworten der neuen politischen Machthaber.

Heute, Zitat aus Frage- und Antwort Nr. 23: »Bis jetzt gehört in der DDR das meiste dem Staat, die Kombinate und Betriebe. Grund und Boden, Häuser und Wohnungen.«

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Die Verkündung in Frage 23: »Bis jetzt gehört in der DDR das meiste dem Staat, die Kombinate und Betriebe. Grund und Boden, Häuser und Wohnungen« reiht sich nahtlos in die indoktrinative und manipulative Zielrichtung des Pamphlets »Neue Freiheit« ein.

In der zitierten Formulierung wird bewusst und offensichtlich wider besseres Wissen nicht von dem in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik bis 1990 vorhandenen Volkseigentum an den Produktionsmitteln und am Grund und Boden, sondern von einem angeblichen Staatseigentum gesprochen.

Zwischen dem Volkseigentum in der DDR und dem fragmentarischen bürgerlichen Staatseigentum der BRD gibt es indes keinerlei Gemeinsamkeiten. Staatseigentum und Volkseigentum sind zwei grundsätzlich konträre Kategorien. In der Deutschen Demokratischen Republik kamen die Erträge (Gewinne) aus dem Volkseigentum an den Produktionsmitteln und am Grund und Boden seinen Eigentümern direkt zugute. Sie mehrten das sozialistische Eigentum und bildeten die Grundlage für die stabile staatliche Sozial- und Subventionspolitik. Niedrige, über Jahrzehnte stabile Mieten und Nahrungsmittelpreise waren dafür ein Spiegelbild.

X Verfassung der DDR, Art. 12 1

Das kapitalistische Staatseigentum dient hingegen ausschließlich der Erhaltung und Konservierung der kapitalistischen Produktionsweise. Friedrich Engels formulierte 1880 dazu in seinem Werk »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, Zitat:

»Aber […] die Verwandlung […] in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte (nicht) auf. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten. […] Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.« [3]

Warum also formulierten die neuen politischen Machthaber des herrschenden Kapitals in ihrer Propagandaschrift »Neue Freiheit« wider besseres Wissen: »Bis jetzt gehört in der DDR das meiste dem Staat«? Mit der gewählten Formulierung in Frage 23 bereiteten diese Herrschaften den geistigen Boden für die zügig angelaufene kriminelle, entschädigungslose Enteignung des DDR-Volkes (siehe »Die Betrogenen, Teil II«) von seinem Volkseigentum, den gezielten Vernichtungsfeldzug gegen den Sozialismus, den »Beutezug Ost«, [4] vor.

Die dem DDR-Bürger zu vermittelnde indoktrinierende Botschaft lautete: Nicht das Volk der DDR wird von seinem Eigentum expropriiert, sondern halb so schlimm, nur der DDR-Staat. »Ruhigstellung« und soziale »Einschläferung« der DDR-Bürger waren das erklärte Ziel.

Jürgen Heidig

[1] Helmut Kohl, Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der DDR mit der BRD, 1. Juli 1990.

[2] »Informationen zum Staatsvertrag. Neue Freiheit, neue Sicherheit: Währungsunion, Wirtschaftsunion, Sozialunion. Fragen und Antworten. Eine Information der Regierungen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland.« Herausgeber: Ministerium für Medienpolitik, Otto-Grotewohl-Straße 19D, 1000 Berlin, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Welckerstraße 11, 5300 Bonn, Gestaltung: Werbeagentur Spiess Ermisch Abels GmbH, 4000 Düsseldorf 11 (1990).

[3] Friedrich Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, MEAW, Band V, Seite 469, Dietz Verlag Berlin 1970.

[4] »Beutezug Ost«, Dokumentarfilm, 2012. »Zero one film«, »Goldrausch – Die Geschichte der Treuhand«.

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